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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






LVI

Paris, 26. März 1843


Als die merkwürdigsten Erscheinungen der heurigen Saison habe ich die Herren Sivori und Dreyschock genannt. Letzterer hat den größten Beifall geerntet, und ich referiere getreulich, daß ihn die öffentliche Meinung für einen der größten Klaviervirtuosen proklamiert und den gefeiertsten derselben gleichgestellt hat. Er macht einen höllischen Spektakel. Man glaubt nicht einen Pianisten Dreyschock, sondern drei Schock Pianisten zu hören. Da an dem Abend seines Konzertes der Wind südwestlich war, so konnten Sie vielleicht in Augsburg die gewaltigen Klänge vernehmen; in solcher Entfernung ist ihre Wirkung gewiß eine angenehme. Hier jedoch, im Departement de la Seine, berstet uns leicht das Trommelfell, wenn dieser Klavierschläger loswettert. Häng dich, Franz Liszt, du bist ein gewöhnlicher Windgötze in Vergleichung mit diesem Donnergott, der wie Birkenreiser die Stürme zusammenbindet und damit das Meer stäupt. Die ältern Pianisten treten immer mehr in den Schatten, und diese armen, abgelebten Invaliden des Ruhmes müssen jetzt hart dafür leiden, daß sie in ihrer Jugend überschätzt worden. Nur Kalkbrenner hält sich noch ein bißchen. Er ist diesen Winter wieder öffentlich aufgetreten, in dem Konzerte einer Schülerin; auf seinen Lippen glänzt noch immer jenes einbalsamierte Lächeln, welches wir jüngst auch bei einem ägyptischen Pharaonen bemerkt haben, als dessen Mumie in dem hiesigen Museum abgewickelt wurde. Nach einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Abwesenheit hat Herr Kalkbrenner auch jüngst den Schauplatz seiner frühesten Erfolge, nämlich London, wieder besucht und dort den größten Beifall eingeerntet. Das Beste ist, daß er mit heilem Halse hierher zurückgekehrt und wir jetzt wohl nicht mehr an die geheime Sage glauben dürfen, als habe Herr Kalkbrenner England so lange gemieden wegen der dortigen ungesunden Gesetzgebung, die das galante Vergehen der Bigamie mit dem Strange bestrafe. Wir können daher annehmen, daß jene Sage ein Märchen war, denn es ist eine Tatsache, daß Herr Kalkbrenner zurückgekehrt ist zu seinen hiesigen Verehrern, zu den schönen Fortepianos, die er in Kompanie mit Herrn Pleyel fabriziert, zu seinen Schülerinnen, die sich alle zu seinen Meisterinnen im französischen Sinne des Wortes ausbilden, zu seiner Gemäldesammlung, welche, wie er behauptet, kein Fürst bezahlen könne, zu seinem hoffnungsvollen Sohne, welcher in der Bescheidenheit bereits seinen Vater übertrifft, und zu der braven Fischhändlerin, die ihm den famosen Turbot überließ, den der Oberkoch des Fürsten von Bénévent, Talleyrand-Périgord, ehemaligen Bischof von Autun, für seinen Herrn bereits bestellt hatte. – Die Poissarde sträubte sich lange, dem berühmten Pianisten, der inkognito auf den Fischmarkt gegangen war, den besagten Turbot zu überlassen, doch als ersterer seine Karte hervorzog, sie auf den letztern niederlegte und die arme Frau den Namen Kalkbrenner las, befahl sie auf der Stelle, den Fisch nach seiner Wohnung zu bringen, und sie war lange nicht zu bewegen, irgendeine Zahlung anzunehmen, hinlänglich bezahlt, wie sie sei, durch die große Ehre. Deutsche Stockfische ärgern sich über eine solche Fischgeschichte, weil sie selbst nicht imstande sind, ihr Selbstbewußtsein in solcher brillanten Weise geltend zu machen, und weil sie Herrn Kalkbrenner überdies beneiden ob seinem eleganten äußern Auftreten, ob seinem feinen geschniegelten Wesen, ob seiner Glätte und Süßlichkeit, ob der ganzen marzipanenen Erscheinung, die jedoch für den ruhigen Beobachter durch manche unwillkürliche Berlinismen der niedrigsten Klasse einen etwas schäbigen Beisatz hat, so daß Koreff ebenso witzig als richtig von dem Manne sagen konnte: »Er sieht aus wie ein Bonbon, der in den Dreck gefallen.«

Ein Zeitgenosse des Herrn Kalkbrenner ist Herr Pixis, und obgleich er von untergeordneterem Range, wollen wir doch hier als Kuriosität seiner erwähnen. Aber ist Herr Pixis wirklich noch am Leben? Er selber behauptet es und beruft sich dabei auf das Zeugnis des Herrn Sina, des berühmten Badegastes von Boulogne, den man nicht mit dem Berg Sinai verwechseln darf. Wir wollen diesem braven Wellenbändiger Glauben schenken, obgleich manche böse Zungen sogar versichern, Herr Pixis habe nie existiert. Nein, letzterer ist ein Mensch, der wirklich lebt; ich sage Mensch, obgleich ein Zoologe ihm einen geschwänzteren Namen erteilen würde. Herr Pixis kam nach Paris schon zur Zeit der Invasion, in dem Augenblick, wo der Belvederische Apoll den Römern wieder ausgeliefert wurde und Paris verlassen mußte. Die Akquisition des Herrn Pixis sollte den Franzosen einigen Ersatz bieten. Er spielte Klavier, komponierte auch sehr niedlich, und seine musikalischen Stückchen wurden ganz besonders geschätzt von den Vogelhändlern, welche Kanarienvögel auf Drehorgeln zum Gesange abrichten. Diesen gelben Dingern brauchte man eine Komposition des Herrn Pixis nur einmal vorzuleiern, und sie begriffen sie auf der Stelle und zwitscherten sie nach, daß es eine Freude war und jedermann applaudierte: »Pixissime!« Seitdem die ältern Bourbonen vom Schauplatz abgetreten, wird nicht mehr »Pixissime« gerufen; die neuen Sangvögel verlangen neue Melodien. Durch seine äußere Erscheinung, die physische, macht sich Herr Pixis noch einigermaßen geltend; er hat nämlich die größte Nase in der musikalischen Welt, und um diese Spezialität recht auffallend bemerkbar zu machen, zeigt er sich oft in Gesellschaft eines Romanzenkomponisten, der gar keine Nase hat und deswegen jüngst den Orden der Ehrenlegion erhalten hat, denn gewiß nicht seiner Musik wegen ist Herr Panseron solchermaßen dekoriert worden. Man sagt, daß derselbe auch zum Direktor der Großen Oper ernannt werden solle, weil er nämlich der einzige Mensch sei, von dem nicht zu befürchten stehe, daß ihn der Maestro Giacomo Meyerbeer an der Nase herumziehen werde.

Herr Herz gehört wie Kalkbrenner und Pixis zu den Mumien; er glänzt nur noch durch seinen schönen Konzertsaal, er ist längst tot und hat kürzlich auch geheiratet. Zu den hier ansässigen Klavierspielern, die jetzt am meisten Glück machen, gehören Halle und Eduard Wolff; doch nur von letzterm wollen wir besonders Notiz nehmen, da er sich zugleich als Komponist auszeichnet. Eduard Wolff ist fruchtbar und voller Verve. Stephan Heller ist mehr Komponist als Virtuose, obgleich er auch wegen seines Klavierspiels sehr geehrt wird. Seine musikalischen Erzeugnisse tragen alle den Stempel eines ausgezeichneten Talentes, und er gehört schon jetzt zu den großen Meistern. Er ist ein wahrer Künstler, ohne Affektation, ohne Übertreibung; romantischer Sinn in klassischer Form. Thalberg ist schon seit zwei Monaten in Paris, will aber selbst kein Konzert geben; nur im Konzerte eines seiner Freunde wird er diese Woche öffentlich spielen. Dieser Künstler unterscheidet sich vorteilhaft von seinen Klavierkollegen, ich möchte fast sagen durch sein musikalisches Betragen. Wie im Leben, so auch in seiner Kunst bekundet Thalberg den angebornen Takt, sein Vortrag ist so gentlemanlike, so wohlhabend, so anständig, so ganz ohne Grimasse, so ganz ohne forciertes Genialtun, so ganz ohne jene renommierende Bengelei, welche die innere Verzagnis schlecht verhehlt. Die gesunden Weiber lieben ihn. Die kränklichen Frauen sind ihm nicht minder hold, obgleich er nicht durch epileptische Anfälle auf dem Klavier ihr Mitleid in Anspruch nimmt, obgleich er nicht auf ihre überreizt zarten Nerven spekuliert, obgleich er sie weder elektrisiert noch galvanisiert; negative, aber schöne Eigenschaften. Es gibt nur einen, den ich ihm vorzöge, das ist Chopin, der aber viel mehr Komponist als Virtuose ist. Bei Chopin vergesse ich ganz die Meisterschaft des Klavierspiels und versinke in die süßen Abgründe seiner Musik, in die schmerzliche Lieblichkeit seiner ebenso tiefen wie zarten Schöpfungen. Chopin ist der große geniale Tondichter, den man eigentlich nur in Gesellschaft von Mozart oder Beethoven oder Rossini nennen sollte.

In den sogenannten lyrischen Theatern hat es diesen Winter nicht an Novitäten gefehlt. Die Buffos gaben uns »Don Pasquale«, ein neues Opus von Signor Donizetti. Auch diesem Italiener fehlt es nicht an Erfolg, sein Talent ist groß, aber noch größer ist seine Fruchtbarkeit, worin er nur den Kaninchen nachsteht. In der Opéra comique sahen wir »La part du diable«, Text von Scribe, Musik von Auber; Dichter und Komponist passen hier gut zusammen, sie sind sich auffallend ähnlich in ihren Vorzügen wie in ihren Mängeln. Beide haben viel Esprit, viel Grazie, viel Erfindung, sogar Leidenschaft; dem einen fehlt nur die Poesie, wie dem andern nur die Musik fehlt. Das Werk findet sein Publikum und macht immer ein volles Haus.

In der Académie royale de musique, der Großen Oper, gab man dieser Tage »Karl VI.«, Text von Casimir Delavigne, Musik von Halévy. Auch hier bemerken wir zwischen dem Dichter und Komponisten eine wahlverwandte Ähnlichkeit. Sie haben beide durch gewissenhaftes edles Streben ihre natürliche Begabnis zu steigern gewußt und mehr durch die äußere Zucht der Schule als durch innere Ursprünglichkeit sich herangebildet. Deshalb sind sie auch beide nie ganz dem Schlechten verfallen, wie es dem Originalgenie zuweilen begegnet; sie leisteten immer etwas Erquickliches, etwas Schönes, etwas Respektables, Akademisches, Klassisches. Beide sind dabei gleich edle Naturen, würdige Gestalten, und in einer Zeit, wo das Gold sich geizig versteckt, wollen wir an dem kursierenden Silber nicht geringschätzend mäkeln. »Der Fliegende Holländer« von Dietz ist seitdem traurig gescheitert; ich habe diese Oper nicht gehört, nur das Libretto kam mir zu Gesicht, und mit Widerwillen sah ich, wie die schöne Fabel, die ein bekannter deutscher Schriftsteller (H. Heine) fast ganz mundgerecht für die Bühne ersonnen, in dem französischen Text verhunzt worden.

Als gewissenhafter Berichterstatter muß ich erwähnen, daß unter den deutschen Landsleuten, die hier anwesend, sich auch der vortreffliche Meister Konradin Kreutzer befindet. Konradin Kreutzer ist hier zu bedeutendem Ansehn gelangt durch das »Nachtlager von Granada«, das die deutsche Truppe, verhungerten Andenkens, gegeben hat. Mir ist der verehrte Meister schon seit meinen frühesten Jugendtagen bekannt, wo mich seine Liederkompositionen entzückten; noch heute tönen sie mir im Gemüte, wie singende Wälder mit schluchzenden Nachtigallen und blühender Frühlingslust. Herr Kreutzer sagt mir, daß er für die Opéra comique ein Libretto in Musik setzen wird. Möge es ihm gelingen, auf diesem gefährlichen Pfad nicht zu straucheln und von den abgefeimten Roués der Pariser Komödiantenwelt nicht hinters Licht geführt zu werden, wie so manchen Deutschen vor ihm geschehen, die sogar den Vorzug hatten, weniger Talent als Herr Kreutzer zu besitzen, und jedenfalls leichtfüßiger als letzterer auf dem glatten Boden von Paris sich zu bewegen wußten. Welche traurigen Erfahrungen mußte Herr Richard Wagner machen, der endlich, der Sprache der Vernunft und des Magens gehorchend, das gefährliche Projekt, auf der französischen Bühne Fuß zu fassen, klüglich aufgab und nach dem deutschen Kartoffelland zurückflatterte. Vorteilhafter ausgerüstet im materiellen und industrieusen Sinne ist der alte Dessauer, welcher, wie er behauptet, im Auftrage der Opéra-comique-Direktion eine Oper komponiert. Den Text liefert ihm Herr Scribe, dem vorher ein hiesiges Bankierhaus Bürgschaft leistet, daß bei etwaigem Durchfall des alten Dessauer ihm, dem berühmten Librettofabrikanten, eine namhafte Summe als Abtrittsgeld oder Dedit ausbezahlt werde. Er hat in der Tat recht, sich vorzusehen, da der alte Dessauer, wie er uns täglich vorwimmert, an der Melancholik leidet. Aber wer ist der alte Dessauer? Es kann doch nicht der Alte Dessauer sein, der im Siebenjährigen Kriege so viele Lorbeern gewonnen und dessen Marsch so berühmt geworden und dessen Statue im Berliner Schloßgarten stand und seitdem umgefallen ist? Nein, teurer Leser! Der Dessauer, von welchem wir reden, hat nie Lorbeern gewonnen, er schrieb auch keine berühmten Märsche, und es ist ihm auch keine Statue gesetzt worden, welche umgefallen. Er ist nicht der preußische Alte Dessauer, und dieser Name ist nur ein nom de guerre oder vielleicht ein Spitzname, den man ihm erteilt hat, ob seinem ältlichen katzenbucklicht gekrümmten und benauten Aussehen. Er ist ein alter Jüngling, der sich schlecht konserviert. Er ist nicht aus Dessau, im Gegenteil, er ist aus Prag, wo er im israelitischen Quartier zwei große reinliche Häuser besitzt; auch in Wien soll er ein Haus besitzen und sonstig sehr vermögend sein. Er hat also nicht nötig zu komponieren, wie die alte Mosson sagen würde. Aber aus Vorliebe für die Kunst vernachlässigte er seine Handlungsgeschäfte, trieb Musik und komponierte frühzeitig eine Oper, welche durch edle Beharrlichkeit zur Aufführung gelangte und anderthalb Vorstellungen erlebte. So wie in Prag, suchte der alte Dessauer auch in Wien seine Talente geltend zu machen, doch die Clique, welche für Mozart, Beethoven und Schubert schwärmt, ließ ihn nicht aufkommen; man verstand ihn nicht, was schon wegen seiner kauderwelschen Mundart und einer gewissen näselnden Aussprache des Deutschen, die an faule Eier erinnert, sehr erklärlich. Vielleicht auch verstand man ihn, und eben deswegen wollte man nichts von ihm wissen. Dabei litt er an Hämorrhoiden, auch Harnbeschwerden, und er bekam, wie er sich ausdrückt, die Melancholik. Um sich zu erheitern, ging er nach Paris, und hier gewann er die Gunst des berühmten Herrn Moritz Schlesinger, der seine Liederkompositionen in Verlag nahm; als Honorar erhielt er von demselben eine goldene Uhr. Als der alte Dessauer sich nach einiger Zeit zu seinem Gönner begab und ihm anzeigte, daß die Uhr nicht gehe, erwiderte derselbe: »Gehen? Habe ich gesagt, daß sie gehen wird? Gehen Ihre Kompositionen? Es geht mir mit Ihren Kompositionen, wie es Ihnen mit meiner Uhr geht. Sie gehen nicht.« So sprach der Musikantenbeherrscher Moritz Schlesinger, indem er den Kragen seiner Krawatte in die Höhe zupfte und am Halse herumhaspelte, als werde ihm die Binde plötzlich zu enge, wie er zu tun pflegt, wenn er in Leidenschaft gerät; denn gleich allen großen Männern ist er sehr leidenschaftlich. Dieses unheimliche Zupfen und Haspeln am Halse soll oft den bedenklichsten Ausbrüchen des Zornes vorausgehen, und der arme alte Dessauer wurde dadurch so alteriert, daß er an jenem Tage stärker als je die Melancholik bekam. Der edle Gönner tat ihm unrecht. Es ist nicht seine Schuld, daß die Liederkompositionen nicht gehen; er hat alles mögliche getan, um sie zum Gehen zu bringen; er ist deswegen von Morgen bis Abend auf den Beinen gewesen, und er läuft jedem nach, der imstande wäre, durch irgendeine Zeitungsreklame seine Lieder zum Gehen zu bringen. Er ist eine Klette an dem Rocke jedes Journalisten und jammert uns beständig vor von seiner Melancholik, und wie ein Brosämchen des Lobes sein krankes Gemüt erheitern könne. Wenig begüterte Feuilletonisten, die an kleinen Journalen arbeiten, sucht er in einer andern Weise zu ködern, indem er ihnen z.B. erzählt, daß er jüngst dem Redakteur eines Blattes im Café de Paris ein Frühstück gegeben habe, welches ihm fünfundvierzig Francs und zehn Sous gekostet; er trägt auch wirklich die Rechnung, die carte payante, jenes Dejeuners beständig in der Hosentasche, um sie zur Beglaubigung vorzuzeigen. Ja, der zornige Schlesinger tut dem alten Dessauer unrecht, wenn er meint, daß derselbe nicht alle Mittel anwende, um die Kompositionen zum Gehen zu bringen. Nicht bloß die männlichen, sondern auch die weiblichen Gänsefedern sucht der Ärmste zu solchem Zwecke in Bewegung zu setzen. Er hat sogar eine alte vaterländische Gans gefunden, die aus Mitleid einige Lobreklamen im sentimental flauesten Deutsch-Französisch für ihn geschrieben und gleichsam durch gedruckten Balsam seine Melancholik zu lindern gesucht hat. Wir müssen die brave Person um so mehr rühmen, da nur reine Menschenliebe, Philanthropie, im Spiele und der alte Dessauer schwerlich durch sein schönes Gesicht die Frauen zu bestechen vermöchte. Über dieses Gesicht sind die Meinungen verschieden; die einen sagen, es sei ein Vomitiv, die andern sagen, es sei ein Laxativ. Soviel ist gewiß, bei seinem Anblick beklemmt mich immer ein fatales Dilemma, und ich weiß alsdann nicht, für welche von beiden Ansichten ich mich entscheiden soll. Der alte Dessauer hat dem hiesigen Publikum zeigen wollen, daß sein Gesicht nicht, wie man sagte, das fatalste von der Welt sei. Er hat in dieser Absicht einen jüngern Bruder expreß von Prag hierherkommen lassen, und dieser schöne Jüngling, der wie ein Adonis des Grindes aussieht, begleitet ihn jetzt überall in Paris. –

Entschuldige, teurer Leser, wenn ich dich von solchen Schmeißfliegen unterhalte; aber ihr zudringliches Gesumse kann den Geduldigsten am Ende dahin bringen, daß er zur Fliegenklatsche greift. Und dann auch wollte ich hier zeigen, welche Mistkäfer von unsern biedern Musikverlegern als deutsche Nachtigallen, als Nachfolger, ja als Nebenbuhler von Schubert gepriesen werden. Die Popularität Schuberts ist sehr groß in Paris, und sein Name wird in der unverschämtesten Weise ausgebeutet. Der miserabelste Liederschund erscheint hier unter dem fingierten Namen Camille Schubert, und die Franzosen, die gewiß nicht wissen, daß der Vorname des echten Musikers Franz ist, lassen sich solchermaßen täuschen. Armer Schubert! Und welche Texte werden seiner Musik untergeschoben! Es sind namentlich die von Schubert komponierten Lieder von Heinrich Heine, welche hier am beliebtesten sind, aber die Texte sind so entsetzlich übersetzt, daß der Dichter herzlich froh war, als er erfuhr, wie wenig die Musikverleger sich ein Gewissen daraus machen, den wahren Autor verschweigend, den Namen eines obskuren französischen Paroliers auf das Titelblatt jener Lieder zu setzen. Es geschah vielleicht auch aus Pfiffigkeit, um nicht an droits d'auteur zu erinnern. Hier in Frankreich gestatten diese dem Dichter eines komponierten Liedes immer die Hälfte des Honorars. Wäre diese Mode in Deutschland eingeführt, so würde ein Dichter, dessen »Buch der Lieder« seit zwanzig Jahren von allen deutschen Musikhändlern ausgebeutet wird, wenigstens von diesen Leuten einmal ein Wort des Dankes erhalten haben. – Es ist ihm aber von den vielen hundert Kompositionen seiner Lieder, die in Deutschland erschienen, nicht ein einziges Freiexemplar geschickt worden! Möge auch einmal für Deutschland die Stunde schlagen, wo das geistige Eigentum des Schriftstellers ebenso ernsthaft anerkannt werde wie das baumwollene Eigentum des Nachtmützenfabrikanten. Dichter werden aber bei uns als Nachtigallen betrachtet, denen nur die Luft angehöre; sie sind rechtlos, wahrhaft vogelfrei!

Ich will diesen Artikel mit einer guten Handlung beschließen. Wie ich höre, soll sich Herr Schindler in Köln, wo er Musikdirektor ist, sehr darüber grämen, daß ich in einem meiner Saisonberichte sehr wegwerfend von seiner weißen Krawatte gesprochen und von ihm selbst behauptet habe, auf seiner Visitenkarte sei unter seinem Namen der Zusatz »ami de Beethoven« zu lesen gewesen. Letzteres stellt er in Abrede; was die Krawatte betrifft, so hat es damit ganz seine Richtigkeit, und ich habe nie ein fürchterlich weißeres und steiferes Ungeheuer gesehen; doch in betreff der Karte muß ich aus Menschenliebe gestehen, daß ich selber daran zweifle, ob jene Worte wirklich darauf gestanden. Ich habe die Geschichte nicht erfunden, aber vielleicht mit zu großer Zuvorkommenheit geglaubt, wie es denn bei allem in der Welt mehr auf die Wahrscheinlichkeit als auf die Wahrheit selbst ankommt. Erstere beweist, daß man den Mann einer solchen Narrheit fähig hielt, und bietet uns das Maß seines wirklichen Wesens, während ein wahres Faktum an und für sich nur eine Zufälligkeit ohne charakteristische Bedeutung sein kann. Ich habe die erwähnte Karte nicht gesehen; dagegen sah ich dieser Tage mit leiblich eignen Augen die Visitenkarte eines schlechten italienischen Sängers, der unter seinem Namen die Worte »neveu de M. Rubini« hatte drucken lassen.






© Wolfgang Fricke