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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XVI

Paris, 29. Juli 1840


Herr Guizot hat bewiesen, daß er ein ehrlicher Mann ist; er hat die geheime Verräterei der Engländer weder zu durchschauen noch durch Gegenlist zu vereiteln gewußt. Er kehrt als ehrlicher Mann zurück, und den diesjährigen Tugendpreis, den Prix Monthyon, wird ihm niemand streitig machen. Beruhige dich, puritanischer Stutzkopf, die treulosen »Kavaliere« haben dich hinters Licht geführt und zum Narren gehabt – aber dir bleiben deine stolzesten Selbstgefühle, das Bewußtsein, daß du noch immer du selbst bist. Als Christ und Doktrinär wirst du dein Mißgeschick geduldig ertragen, und seit wir herzlich über dich lachen können, öffnet sich dir auch unser Herz. Du bist wieder unser alter lieber Schulmeister, und wir freuen uns, daß der weltliche Glanz dir deine fromme, magisterliche Naivetät nicht geraubt hat, daß du gefoppt und gedrillt worden, aber ein ehrlicher Mann geblieben bist! Wir fangen an, dich zu lieben. Nur den Gesandtschaftsposten zu London möchten wir dir nicht mehr anvertrauen; dazu gehört ein Geierblick, der die Ränke des perfiden Albions zeitig genug auszuspionieren weiß, oder ein ganz unwissenschaftlicher, derber Bursche, der keine gelehrte Sympathie hegt für die großbritannische Regierungsform, keine höflichen speeches in englischer Sprache zu machen versteht, aber auf französisch antwortet, wenn man ihn mit zweideutigen Reden hinhalten will. Ich rate den Franzosen, den ersten besten Grenadier der alten Garde als Gesandten nach London zu schicken und ihm allenfalls Vidocq als Wirklichen Geheimen Legationssekretär mitzugeben.

Sind aber die Engländer in der Politik wirklich so ausgezeichnete Köpfe? Worin besteht ihre Superiorität in diesem Felde? Ich glaube, sie besteht darin, daß sie erzprosaische Geschöpfe sind, daß keine poetischen Illusionen sie irreleiten, daß keine glühende Schwärmerei sie blendet, daß sie die Dinge immer in ihrem nüchternsten Lichte sehen, den nackten Tatbestand fest ins Auge fassen, die Bedingnisse der Zeit und des Ortes genau berechnen und in diesem Kalkül weder durch das Pochen ihres Herzens noch durch den Flügelschlag großmütiger Gedanken gestört werden. Ja, ihre Superiorität besteht darin, daß sie keine Einbildungskraft besitzen. Dieser Mangel ist die ganze Force der Engländer und der letzte Grund ihres Gelingens in der Politik, wie in allen realistischen Unternehmungen, in der Industrie, im Maschinenbau usw. Sie haben keine Phantasie; das ist das ganze Geheimnis. Ihre Dichter sind nur glänzende Ausnahmen; deshalb geraten sie auch in Opposition mit ihrem Volke, dem kurznasigen, halbstirnigen und hinterkopflosen Volke, dem auserwählten Volke der Prosa, das in Indien und Italien ebenso prosaisch, kühl und berechnend bleibt wie in Threadneedle Street. Der Duft der Lotusblume berauscht sie ebensowenig, wie die Flamme des Vesuvs sie erwärmt. Bis an den Rand des letztern schleppen sie ihre Teekessel und trinken dort Tee, gewürzt mit cant!

Wie ich höre, hat voriges Jahr die Taglioni in London keinen Beifall gefunden; das ist wahrhaftig ihr größter Ruhm. Hätte sie dort gefallen, so würde ich anfangen, an der Poesie ihrer Füße zu zweifeln. Sie selber, die Söhne Albions, sind die schrecklichsten aller Tänzer, und Strauß versichert, es gebe keinen einzigen unter ihnen, welcher Takt halten könne. Auch ist er in der Grafschaft Middlesex zu Tode erkrankt, als er Altengland tanzen sah. Diese Menschen haben kein Ohr, weder für Takt noch für Musik überhaupt, und ihre unnatürliche Passion für Klavierspielen und Singen ist um so widerwärtiger. Es gibt wahrlich auf Erden nichts so Schreckliches wie die englische Tonkunst, es sei denn die englische Malerei. Sie haben weder Gehör noch Farbensinn, und manchmal steigt in mir der Argwohn auf, ob nicht ihr Geruchsinn ebenfalls stumpf und verschnupft sei; es ist sehr leicht möglich, daß sie Roßäpfel und Apfelsinen nicht durch den bloßen Geruch voneinander unterscheiden können.

Aber haben sie Mut? Dies ist jetzt das wichtigste. Sind die Engländer so mutig, wie man sie auf dem Kontinent beständig schilderte? Die vielgerühmte Großmut der Mylords existiert nur noch auf unserm Theater, und es ist leicht möglich, daß der Aberglaube von der kaltblütigen Courage der Engländer ebenfalls mit der Zeit verschwindet. Ein sonderbarer Zweifel ergreift uns, wenn wir sehen, wie ein paar Husaren hinreichend sind, ein tobendes Meeting von hunderttausend Engländern auseinanderzujagen. Und haben auch die Engländer viel Mut als Individuen, so sind doch die Massen erschlafft durch die Gewöhnungen und Komforts eines mehr als hundertjährigen Friedens; seit so langer Zeit blieben sie im Inlande vom Krieg verschont, und was den Krieg betrifft, den sie im Auslande zu bestehen hatten, so führten sie ihn nicht eigenhändig, sondern durch angeworbene Söldner, gedungene Raubritter und Mietvölker. Auf sich schießen zu lassen, um Nationalinteressen zu verteidigen, wird nimmermehr einem Bürger der City, nicht einmal dem Lord Mayor einfallen; dafür hat man ja bezahlte Leute. Durch diesen allzu langen Friedenszustand, durch zu großen Reichtum und zu großes Elend, durch die politische Verderbnis, die eine Folge der Repräsentativverfassung, durch das entnervende Fabrikwesen, durch den ausgebildeten Handelsgeist, durch die religiöse Heuchelei, durch den Pietismus, dieses schlimmste Opium, sind die Engländer als Nation so unkriegerisch geworden wie die Chinesen, und ehe sie diese letztern überwinden, sind vielleicht die Franzosen imstande, wenn ihnen eine Landung gelänge, mit weniger als hunderttausend Mann ganz England zu erobern. Zur Zeit Napoleons schwebten die Engländer beständig in einer solchen Gefahr, und das Land ward nicht geschützt durch seine Bewohner, sondern durch das Meer. Hätte Frankreich damals eine Marine besessen, wie es sie jetzt besitzt, oder hätte man die Erfindung der Dampfschiffe schon so furchtbar auszubeuten gewußt wie heutzutage, so wäre Napoleon sicher an der englischen Küste gelandet, wie einst Wilhelm der Eroberer – und er würde keinen großen Widerstand gefunden haben: denn er hätte eben die Eroberungsrechte des normannischen Adels vernichtet, das bürgerliche Eigentum geschützt und die englische Freiheit mit der französischen Gleichheit vermählt!

Weit greller, als ich sie ausgesprochen, stiegen die vorstehenden Gedanken gestern in mir auf beim Anblick des Zuges, der dem Leichenwagen der Juliushelden folgte. Es war eine ungeheure Volksmasse, die ernst und stolz dieser Totenfeier beiwohnte. Ein imposantes Schauspiel, und in diesem Augenblick sehr bedeutungsvoll. Fürchten sich die Franzosen vor den neuen Alliierten? Wenigstens in den drei Juliustagen spüren sie nie eine Anwandlung von Furcht, und ich kann sogar versichern, daß etwa hundertundfünfzig Deputierte, die noch in Paris sind, sich aufs bestimmteste für den Krieg ausgesprochen haben, im Fall die beleidigte Nationalehre dieses Opfer verlange. Was aber das wichtigste: Ludwig Philipp scheint dem ruhigen Erdulden jeder Unbill Valet gesagt und für den Fall der Not den durchgreifendsten Entschluß gefaßt zu haben. – Wenigstens sagt er es, und Herr Thiers versichert daß er den aufbrausenden Unwillen des Königs manchmal nur mit Mühe besänftige. Oder ist solche Kriegslust nur eine Kriegslist des göttlichen Dulders Odysseus?






© Wolfgang Fricke