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Heinrich Heine: Brief an Moritz Embden
vom 2. Februar 1823

Lieber Embden!


Ihr Brief vom 23. vorigen Monats hat mich mit vieler Freude erfüllt; ich gratuliere zu Ihrer Verlobung mit meiner Schwester. Obschon die Nachricht derselben mich sehr bewegte, gewiß mehr, als man es mir zutraute, so kam sie mir doch nicht vor wie eine „seltsame Schicksalslaune“; sie erschien mir vielmehr als etwas, was ich längst gewußt, und zwar schon vor vielen Jahren gewußt, und was ich während meiner innern und äußern Lebensstürme allmählich vergessen hatte. - Ich hoffe, daß Sie und meine Schwester ein glückliches Paar sein werden, da Lottchen imstande ist, den Wert Ihres Charakters zu fühlen, und da auch Sie den Charakter meiner Schwester zu würdigen verstehen; weil Sie gewiß nicht, wie unsre verbildete schöne Welt, an einem Weibe einseitig hervorstechende Vorzüge des Verstandes oder des Herzens oder des Körpers schätzen und weil Sie gewiß, wie ich Sie beurteile, nur im schönen Ebenmaße aller Seelenkräfte die wahre Bildung und in der Harmonie von Seele und Körper die wahre Liebenswürdigkeit erkennen. Mein Lottchen ist Musik, ganz Ebenmaß und Harmonie der Bruder braucht sich gegen den Bräutigam solcher Ausdrücke nicht zu enthalten.

Der politische Teil Ihres Briefes hat mich sehr erfreut; es ist mir lieb, daß der künftige Mann meiner Schwester kein Revolutionär ist. Auch finde ich es sehr natürlich, daß ein Mann, der à son aise und glücklicher Bräutigam ist, nicht den Umsturz der bestehenden Formen wünscht und für seine und Europas Ruhe besorgt ist. Bei mir sind andere Verhältnisse obwaltend, und außerdem fühle ich mich ein bißchen seltsam gestimmt, wenn ich zufällig in der Zeitung lese, daß auf den Straßen Londons einige Menschen erfroren und auf den Straßen Neapels einige Menschen verhungert sind. Obschon ich aber in England ein Radikaler und in Italien ein Carbonari bin, so gehöre ich doch nicht zu den Demagogen in Deutschland; aus dem ganz zufälligen und geringfügigen Grunde, daß bei einem Siege dieser letztern einige tausend jüdische Hälse, und just die besten, abgeschnitten werden.

Mögen indessen unsere Ansichten über die Erscheinungen des Tages noch so grell voneinander abweichen oder sich gar entgegengesetzt sein, so bin ich überzeugt, daß dieses nicht im mindesten einen unfreundlichen Einfluß ausüben wird auf unsere verwandtschaftliche Freundschaft, die auch in der Ferne (ein trüber Unmut wird mich auf immer von Hamburg zurückhalten), durch gemütliche Teilnahme, durch verständige Berichtigung und durch liebevolle Aufmuntrung, mich, der ich noch in Verstimmung, Irrtum und Kampf lebe, oft erheitern, belehren und beruhigen wird.

H. Heine


Berlin, den 2. Februar 1823
Adresse: H. H., Stud. juris
aus Düsseldorf in Berlin.


© Wolfgang Fricke